Montag, 26. August 2019

608-4-99

Der Rennradquickie mit leichtem Gepäck durch die Brexitnation ist zu Ende. Er war 608 Kilometer lang, brachte dem Chronisten mit vier Mal Fish and Chips einen Überblick über dieses Nationalgericht und er hat mindestens 99 mal die schlechten Radbedingungen verwünscht, verflucht, verdammt. Windtechnisch hätte er anders herum fahren sollen, aber genußtechnisch war es so richtig. Die Ankunft am Trafalgar Square war eine schöne Belohnung.

Die Tour
Der Chronist ist den Menschen dankbar für ihre Freundlichkeit, ihre Offenheit, ist dem Himmel dankbar dafür, dass er die extra noch beschaffte Regenjacke unbenutzt lassen konnte und dass er heile angekommen ist, er selber zumindest. Über die gebrochene Hinterradstrebe an seinem teuren Leichtgewicht reden wir noch, lieber Boris. Das ist Carbon und da kannst du den Rahmen nur wegschmeissen!  
Für den Chronisten ist klar: Der Brexit ist politischer Rinderwahnsinn und ein Betriebsunfall in der britischen Geschichte, verursacht durch die Nichtbeachtung einer ganzen Gruppe der Gesellschaft und durch die leichtfertige Einschätzung des Votums in London und Brüssel. Ist das zu bedauern? Nö, wie sonst sollte sich etwas ändern.
Wird Großbritannien wie Phönix aus der Asche aufsteigen? Das wird schwer. Über Jahre hinweg haben 800000 Polen, hundertausende Migranten aus Afrika, Asien und anderen assoziierten Ländern des Empires allen, auch den Working class Menschen den Arsch gepudert, haben ihnen das Leben leicht gemacht, die Badezimmer für kleines Geld renoviert, geputzt, die Alten gepflegt. Jetzt müssen die Working class people ihre alten Fähigkeiten und Verpflichtungen erst wieder lernen. Und die Mittelklasse und die Oberschicht muss feststellen, dass da noch Millionen im Lande sind, die auch zum Volk gehören. Der Gips wird vom Bein abgenommen, die Muskeln sind noch schwach.
Der Chronist sah Leuchtürme modernen Wirtschaftens aber auch viel Altware. Und als er am Morgen nach der  Fährüberfahrt von Hoek van Holland eine halbe Stunde lang im Bus nach Schiedam zum Bahnhof fuhr und eine halbe Stunde lang an modernen Industrieanlagen, an sauberen Gewerbebetrieben, an zig Hektar großen Gewächshäusern entlang fuhr, da verdünnten sich diese positiven Ansätze zu nichts.
Respekt verschafften dem Chronisten Ansichten der Schulen. Sauber, modern, groß; warum sie so hoch eingezäunt sind, wunderte ihn.



Das ist ein Angebot aus einem ganzen Schaufenster voll ähnlicher. Bei den Lebenshaltungskosten hier kann man mit dieser Entlohnung keinen Haushalt führen. Es zwingt zu Dritte-Welt-Überlebensstrategien: Mehrere Personen eines Haushalts müssen ihr Einkommen zusammentun


Lieber Boris, Du hast mehr noch als andere europäische Länder eine ausgeprägte Klassengesellschaft. Der Chronist staunte über so viel traditionell begründete Wohlhabenheit, die nicht einmal sichtbar ist. Sie liegt oft am Ende dieser Kieswege, die an einer Heckenöffnung an der Straße beginnen und die an stattlichen Anwesen in parkartigen Gärten enden. Der Kies ist sauber gesäumt, seine Cremefarbigkeit harmoniert mit den Ledersitzen der Jaguar, Bentleys und Porsches.
Du wirst schwer auf die Mütze kriegen, wenn du deine Working class nicht besser bedienst, als das in dem obigen Bild angeboten wird. Siebzehn Millionen haben für den Brexit gestimmt, ein großer Teil wird zu ihnen gehören. Es sind auch deine Menschen.

Lieber Boris, deine Gegner jaulen und monieren politische Unkorrektheiten. Korrektheit hin oder her, das ist den meisten Menschen in deinem Lande im Moment wurscht nach dem ganzen Gehampel. Deswegen wirst Du es hinbekommen, den Brexit, so oder so. Aber danach, mein Lieber, danach musst Du liefern, sonst bist du selber geliefert. Wenn du nur als Hasardeur angetreten bist, wonach es bisher immer aussah, dann wirst Du untergehen. Du musst deine Leute, dein Land auch lieben, sonst geht es in die Hose!


Der Chronist neigt ja, wie alle Männer, gerne zum Weltpolitikmachen, und so fiel ihm dann gegen Ende dieser Fahrt, die ja vor allem viel Zeit zum Nachdenken bietet, dies hier ein:
Haben wir (hier in Deutschland) keine anderen Sorgen als Ferkelkastration zu bejammern, Dieselfahrverbote auszusprechen und Flüchtlinge zu beschimpfen? Auf den Autobahnen bilden die LKWs eine geschlossene Formation von unendlichen Güterzügen, in den Städten ist kein wirklich kreatives und radikal neues Verkehrskonzept zu sehen, die Provinz wird von der Politik ignoriert und die Zunahme alter Menschen überwältigt gerade die junge Generation.

Danke für's Dabeisein und sorry für die Schnellbesohlung. Es sind Fehler drin, es hätte mehr Feinschliff drangekonnt. Aber dafür ist jetzt keine Zeit, der Chronist feiert in zwei Wochen seinen siebzigsten Geburtstag und da muss er auf den Saal und das ordentlich vorbereiten.
Am Ende war es eine schöne Reise.





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