Mittwoch, 21. August 2019

Tag 5 Cambridge - London (1)-1-5 (1)

Peterborough - London macht 159 Kilometer, nach Liste, hinzu kommt der übliche Klüngel. Die geneigten Leser und Leserinnen mögen es dem Chronisten zugestehen, dass er den letzten Tag im Königreich sich nicht zuschanden fahren möchte. Als Startort drängt sich ein klangvoller Name auf: Cambridge. Er muss ja nur aus dem Hotel über die Straße zum Bahnhof. Cross Country transportiert ihn, das Rad fährt wieder kostenlos mit. Weil Radfahren kein nationales Thema ist, ist es im Zug auch kein Problem. Der einzige Stellplatz ist daher frei.


Lieber Boris, deine Züge sind pünktlich, komfortabel und das Personal ist freundlich; klarer Pluspunkt


Der Tag ist freundlich sonnig. Cambridge, ein klangvoller Name, eine berühmte Stadt. Der Chronist will hindurchrollen, um ein wenig Witterung aufzunehmen, ansonsten hat er nicht zu viel Zeit. Am Ende des Tages wartet die Fähre, oder besser, sie wartet nicht, wenn er nicht da ist. Touristen aus aller Welt tummeln sich im Zentrum, ganz viele aus Asien. Wenigstens ein Foto. Das wird auch bereitwillig gemacht.




Als der Chronist mit seinem Juwel durch die Tür in den Innenhof des Christ’s College stöckelte, wurde er barsch abgewiesen; „No cycles“, als ob er hier mit einem rostigen Hollandrad den heiligen Hof betreten wollte

Am Kings College waren ebenfalls keine Räder erlaubt, da hat sich der Chronist bei Google Maps nach dem Weg zu „The Orchard“ erkundigt, um unter Apfelbäumen einen Tee zu nehmen, eine Empfehlung.



Die Äpfel rührt der Städter nicht an. Er glaubt nicht an ihre Verzehrbarkeit

Lieber Boris, gestern lief es so prima mit dem Wind. Heute wäre WSW auch noch OK gewesen, wo sich der Chronist ziemlich genau nach Süden bewegt. Aber er kommt direkt von vorn. Was soll das? Also beißt der Chronist die Zähne zusammen und denkt an den Prediger, der da philosophierte:

Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.

Es gelang nicht wirklich. Die Gegend war von der letzten Eiszeit leicht gewellt hinterlassen worden, was heißt, es ging zwar sanft, aber es ging ständig bergauf und bergab.
Die Eiszeit hatte den Boden gleichzeitig fruchtbar hinterlassen, kreidehaltiger Meeresboden. Weizen und Rüben, so weit das Auge reicht. Die Maschinisten tun einem bei der Schlaggröße fast leid. Felder, die an einem Tag nicht zu schaffen sind. Eine Flurbereinigung haben die hier nicht nötig, trotzdem bieten viele Hecken noch Lebensraum für Flora und Fauna. Überhaupt scheint England noch viele Wildtiere zu haben. Auf keiner anderen Reise hat der Chronist so viel Totes auf der Straße gesehen (flattened fauna).



Wenig Verkehr, weite Sicht, Gegenwind



Die Trassenwahl der App ist prima. Wenig Verkehr, wenn man den Wind nicht als Verkehrsteilnehmer mitrechnet. Londons Nähe ist zu spüren, die Straßenoberflächen sehen nicht mehr nur so dahingegüllt aus, die Dörfer sind schön im Wortsinn, die Autos werden noch eine Nuance edler.
Beim Chronisten macht sich die Anstrengung bemerkbar. Er hat nicht mehr so richtig Biss, die ganze Nation zur Rede zu stellen. Er braucht viel Wasser, da kommt ihm die offene Tür eines eher schicken Hauses recht. Stewart bietet ihm Wasser und bereitwillig Auskunft. Nein, er hatte dagegen gestimmt, seine Frau auch. Allein schon für ihr Kind (die Frau war nicht da, daher der Klammerwert in der Überschrift). Peinlich ist ihm sein brexitbefürwortender Vater, der andere Klammerwert. Warum? Der hätte doch alles!
Stewart ist Landschaftsgärtner von Beruf, im Moment aber Hausmann. Scheint ja zu laufen. Der Chronist konnte durch die Haustür bis in den Garten gucken und das waren mindestens fünfzehn Meter Wohnraum.





Polierte Provinz nahe der Hauptstadt


Unterwegs kreuzt der Chronist eine riesige Baustelle, die sich quer durch das Land fräst.


Ein neuer Schnellweg?
Marian muß an der wenig befahrenen Straße für den kreuzenden Baustellenverkehr ein Stoppschild bedienen. Er ist noch jung, kommt aus Rumänien und verzweifelt an diesem Bexitdilemma. Alles wird geschlossen fürchtet er.



Marian aus Rumänien hat mit Sicherheit nicht wählen dürfen, aber hier zählt seine Stimme

In der zweiten Etappenhälfte führt ihn die App an das River Lee Kanalsystem. Der Radweg hat eine einigermaßen qualitätvoll hergestellte wassergebundene Oberfläche, die sanft gewellt ist. Je nach Geschwindigkeit schaukelt oder ruckelt man am Kanal entlang. Der Chronist fährt schnell und muss daher aufpassen. Denn entlang des Weges liegen Narrow boats, schmale, lange Binnenschiffe, die auf dem landüberspannenden Kanalnetz Transportfahrzeuge waren und heute Wohnboote sind. Es sind hunderte und sind je nach Eigentümer Müllhalden oder Schmuckstücke.
Teile des Hausrats liegen manchmal am Wegesrand, manche haben Tisch und Stuhl ins Gras gestellt und manche ihren Hund in unkalkulierbarer Länge angeleint. Wenn dann noch Gegenverkehr ist, heißt es Achtung. Auf keinen Fall möchte der Chronist im Kanal landen, dann wäre der Zeitplan hin und sein Alleskönner auf dem Lenker sprachlos.





Eine für den Moment beneidenswerte Musse...



...strahlt von dieser Szenerie aus; Vatter hängt die Wäsche um

Das geht rund zwanzig Kilometer so weiter, bis die blaue Linie am Lenker von der blauen Linie nebenan abweicht. Es ist auch dringend nötig. Je näher der Chronist der Stadt kommt, je verrotteter wird die Szenerie. Hier werden die Boote von Wohnungslosen benutzt, wer kein Boot hat, schläft unter den Brücken oder in Zelten im Gebüsch. Müll bringt hier keiner weg und holt keiner ab. Welch ein Gegensatz zum Zentrum. Dem Chronisten droht der Strom auszugehen und damit wäre er hier verloren.
Auf den letzten Metern Kanal und dem Eintauchen in den Stadtbereich Londons tauchen seltsame Gestalten auf. Schwarze, lange Mäntel, schwarze, steife Hüte, links und rechts baumeln neben den Ohren Ringellöckchen und links und rechts haben diese Gestalten viele Kinder jeder Altersklasse an der Hand: Orthodoxe Juden. Welche Bibelstelle diese hässliche Verkleidung fordert, wüsste ich gerne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott mit solchem Umgang seiner Schöpfung glücklich ist.
Am großen Finsbury Park fährt der Chronist auf das Park View Cafe zu. Er zögert hineinzugehen, es sieht sehr hemdsärmelig aus. Aber der indische Eigentümer hat seinen Laden im Griff, es gibt außer Steckdosen sehr leckere, vegetarische Spagetti. Am Ende rafft sich der Chronist noch zu einem Interview auf. Am Nachbartisch sitzen drei selbstbewusste junge, farbige Frauen. Nein, sie wollen bleiben. Der Brexit sei durch Propaganda und Unwahrheit Zustande gekommen. Für ein Foto sind sie „too shy“, die exotischen Namen bekomme ich, schließlich benötige ich Belege für meine Leserschaft. Horya, Nimo und Ikra.
Und dann kommt der Schlussakt, der Weg zum Trafalgar Square. Es liebt der Chronist solche Ziele, es liebt der Chronist das Durch-die-Großstadt-huschen mit dem Rennrad, durch den dichten Verkehr, durch die Seitenstraßen, in denen sich bei dem schönen Wetter die Büroleute zu einem Feierabendbier treffen, vorbei an Hochhaustürmen, vorbei an der Bank of England und dann ist da dieser majestätische Platz, den er schon hundertmal besucht hat, aber noch nie erradelt, der immer von Menschen wimmelt, die immer ein Lächeln auf den Lippen haben, mitgebracht aus der ganzen Welt.




Angekommen!

Zack, ein Foto, ein Interview, einmal tief durchatmen, es ist geschafft. Und dann weiter, der Blick auf die Tourtabelle macht den Chronisten etwas sprachlos. Sein Zug fährt gerade in Liverpool Street Station ab. Er hat im Kopf eine andere Zahl gehabt. Und er muss die Fähre noch bekommen, der Enkel hat morgen Geburtstag und das geht unbedingt vor.
 


 
Fatima hat nicht gewählt. Sie weiß nicht, was richtig ist. Italien, ihr Ursprungsland, wolle ja auch aus der EU. Selfie? Klar!


Jetzt beginnt eine eher wilde Hatz über vier Kilometer an der Themse entlang. Das hauptstädtische Radwegesystem ist super, der Chronist klemmt sich hinter zwei Schnellfahrer, die die trödelnden Touristen auf ihren Leihrädern aus dem Weg brüllen.
Es gibt die Zugverbindung nur stündlich, er muss den nächsten Zug nehmen und wird damit eine Viertelstunde später ankommen als der ultimative Check-in verlangt. Er wird etwas nervös. Warten in Manningtree auf den Anschluss, der Warteraum des Bahnhofs mit Bücherkiste, Sofa und Kamin wäre zu anderen Zeiten ein Genuss.



So kann ein Provinzbahnhof auch geführt werden, Herr Richard Lutz!

Harwich international. Keine Schlange mehr, freundliche Leuchtwesten schicken den Chronisten dennoch vom Schiff wieder weg. Er muss erst durch den Check-in und rollt dann als Letzter an Bord, fährt erleichtert bis auf den Platzeinweiser zu (was streng verboten ist, es ist zu schieben, aber nicht mehr jetzt, was der Einweiser auch so sieht) Geschafft. In der Kabine ist alles da, auch viel heißes Wasser. Es ist spät, die Nacht wird kurz, aber das ist jetzt auch egal.



Bilanz


Der Vollständigkeit halber

 Beste Grüße



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